update: 30-Oct-2002

Berlin / DTB-Pressekonferenz:

Sisyphus oder die Quadratur des Kreises

Gedanken nach der Pressekonferenz zum Amtsantritt des neuen deutschen Turn-Nationaltrainers Andreas Hirsch

(-  Teil 1: von Eckhard Herholz / Teil  2: H.J. Zeume; GYMmedia -)

 


DTB-Pressekonferenz : Vorstellung des neuen Bundestrainers Andreas Hirsch

Sie hatte eher etwas Familiäres, diese Pressekonferenz des DTB im Olympiazimmer des OSP Berlin. Der große Hauch von Aufbruchstimmung in den Niederungen des Leistungstals war erst einmal rein äußerlich vom Ambiente nicht abzuleiten.
Trotzdem soll die Amtseinführung des 17. deutschen Turn-Nationaltrainers seit 1950 - des dreizehnten in Diensten des DTB - Gewaltiges bewirken:
Aufhalten des Abwärtstrends des letzen Jahrzehnts, sprich Sicherung eines Platzes in der Olympic Family zur WM 2003 - und möglichst gleichzeitig Trendwende, wieder hin zur Spitzen-Turnnation Deutschland über die Etappen Athen 2004, WM Stuttgart 2007, Olympia 2008 und 2012 - eventuell gar im eigenen Land.

Für diese gewaltigen Aufgaben steht dem zweitgrößten Sportverband mit Rainer Brechtken ein Mann im Präsidentenamte vor, wie ihn der DTB so noch nicht hatte, nämlich mit klarem Bekenntnis pro Leistungssport:
"Was die Entwicklung unserer Kernsportarten angeht: Der internationale Maßstab ist unsere eindeutige Zielsetzung! Wenn wir als DTB wahr genommen - ja ernst genommen - werden sollen, sind internationale Erfolge die Richtschnur. Deshalb müssen wir auch weg von bestehenden nationalen Zufriedenheiten!"

Bessere Geleitworte kann man bei der Inthronisierung eines neuen Bundestrainers gar nicht finden! Und noch besser: "Der neue Bundestrainer Männerturnen des DTB hat die volle Rückendeckung des Präsidenten, wenn es gilt ein harmonisches Trainerteam zu formieren.... das ist keine leichte Aufgabe, aber die Leistung ist entscheidend, um das System zu erhalten!"
Na also, beste Bedingungen und Rücken frei für den neuen Mann.....!
Bloß, was hat sich nun eigentlich geändert nach den Turbulenzen der Sommermonate....?

Zweifelsfrei tritt nun ab 1. November mit Andreas Hirsch ein Mann mit höchster Kompetenz und zuletzt nachgewiesenen Erfolgen im Nachwuchsbereich an. "Meine Aufgabe ist erst einmal das Bündeln der Kräfte. Andere Sportarten mühen sich um effiziente Konzepte und die Turner streiten sich - das macht keinen Sinn," so der 44-jährige Berliner pragmatisch. "Wenn man sich umschaut: Wer international erfolgreich ist, hat immer ein hauptsächliches Konzept: Alle ziehen an einem Strang! Und was die Turner angeht, denen werde ich solche Fragen stellen müssen: Wer verhält sich kooperativ zu vorgeschlagenen Konzepten? Wer bringt sich deutlich mit Leistungen ein? Woran messen wir uns generell?"
Und weiter der neue Coach: "Auch wenn es in China oder Russland andere Motivationen gibt - von dort aber kommen unsere sportlichen Gegner her und es steht  h i e r  in Deutschland die Frage, was wir dagegen zu setzen haben. Daimler Benz muss sich beim Verkauf seiner High-tech Marken auch dem internationalen Marktbedingungen stellen...!

 

Mit denselben Turnern, dem selben Konzept - nun soll plötzlich alles gehen, wo zuvor der "Aufstand der Turner" stattfand, wo Bundestrainerkollege Hanschke resignierend das Handtuch warf und ein Vize-Präsident Friedrich zum Rücktritt genötigt wurde...?
Welches Wunder ist denn da geschehen, dass sich nun die Szene so befrieden oder besser konzentrieren lässt? Eigentlich gar keins. Da hatten einfach ein paar Funktionäre ihre Hausaufgaben nicht gemacht, strategische Ziele mit der Keule und gegen die Beteiligten durchsetzen wollen, haben Wind gesät und Sturm geerntet. 


Willam, Brechtken

Die diesbezüglich dritte "Personalie" neben den zwei Zurückgetretenen, der Sportdirektor Willam, der nicht unwesentlich beteiligt war an den Stürmen im Wasserglas, der saß bei dieser Pressekonferenz zur Rechten des Präsidenten. Immerhin ein Mann, in dessen kompletter Amtszeit seit 1992 Barcelona der "freie Fall" von Platz 4 auf Rang 13 (eigentlich Rang 15, bei Berücksichtigung von Japan und Cuba) des Männerturnens fällt, das in den letzten 5 Jahren keine internationale Einzelmedaille mehr gemacht hatte. Der Frauenturnbereich fand 1996 nur noch mit 2 Einzelturnerinnen und 2000 gar nicht mehr auf olympischem Podeste statt. 

Die Rhythmische Sportgymnastik muss momentan ihre letzen Individualistinnen wegen mangelnder Erfolgsaussichten in die Gruppe schicken. Letzte Medaillenaussichten des Trampolinturnens erhofft man sich (noch) von den Etablierten, den "alten" Strategen - hier ist die Sicherung der Leistungsperspektiven des Nachwuchses auch noch nicht in trockenen Tüchern....
Fragen an diesen Mann aber ließ der clevere Politiker Brechtken erst gar nicht mal zu, Fragen an Willam beantwortete er selbst: "Wir haben Zeit verloren, das ist Fakt.... irgendwann muss ich unter Personalien einen Strich ziehen...", und: Ich stehe hinter beiden: Dem neuen Bundestrainer und dem Sportdirektor!"
Basta! 
Wie eine letzte Chance muss das wohl vom Sportdirektor aufgefasst werden, nun doch noch in der Kürze der Zeit Wesentliches zu richten, und er tut gut daran, sich neben seinen Präsidenten und hinter seinen neuen Bundestrainer zu stellen. Und  d e r  tut gut daran, seine Athleten zu gemeinsamer Arbeit zu motivieren, um sich dann hinter seine Turner zu stellen. Genau daran - nämlich am falschen Stellungsspiel - ist wohl sein Vorgänger im Amte gescheitert.
Eine Sisyphusarbeit, die nicht mit Etappe 1 - dem Lösen des Olympiatickets zur WM im August 2003 in Anaheim (USA) - abgeschlossen sein wird.
Gelingt es nicht über dieses existentielle Nahziel hinaus über zukunftsträchtige Strukturen des Leistungssportes dieser Disziplinen neue Konzepte zu finden, kommt es der Quadratur des Kreises gleich: Es ist unmöglich mit immer weniger Trainern, geringer werdender Mittel, reduzierten Zentren wieder in Medaillenbereiche zu gelangen. So klingt es gut, was Brechtken sagte: "Trotz Zusammenführen und Konzentrieren und besserer Arbeit müssen wir ein 'System der Verankerung in der Fläche' aufbauen, müssen wir im Nachwuchsbereich die Förderung von unten auch künftig garantieren."
Und mit Blick auf das Naheliegende: 
Allen Trainern und Turnern des Spitzenbereiches tun gut daran, ohne Zeitverzug den neuen Mann Andreas Hirsch  und seine Strategien zu unterstützen, sonst droht da nicht nur der Verlust der eigenen Arbeitsplätze - hier geriete gar eine ganze Sportart in existenzielle Gefahr!
Eckhard Herholz


 

Teil 2: Wider eine nationale Zufriedenheit
- von Hans-Jürgen Zeume; 


Andreas Hirsch (Berlin) neuer deutscher Turn-Cheftrainer
Sylvio Kroll (Cottbus) übernimmt DTB-Kreativgruppe


Der Ort passte zu dieser Aussage. Olympiazimmer am Berliner Olympiastützpunkt. “Der internationale Maßstab ist unsere Richtschnur – und nicht eine nationale Zufriedenheit. Wir müssen alle Kräfte bündeln, um den Anschluss wieder herzustellen. Das gilt nicht nur für das Männerturnen.“ DTB-Präsident Rainer Brechtken (Stuttgart) stellte seinen neuen Cheftrainer Andreas Hirsch (Berlin) vor. In gemeinsamer wie zweifelhafter Aktion hatten Turner und Landesverbände den bisherigen Cheftrainer und den bisherigen Vizepräsidenten zur Aufgabe gezwungen, weil diese statt Bequemlichkeit rettenden Zentralismus ausgerufen hatten.


Brechtken und sein neuer Coach Hirsch

Präsident und neuer Cheftrainer sind sich einig:
 „Wir werden künftig einen Stützpunkt in Stuttgart und einen in Berlin haben.“ 
- Zwei Cottbuser (Ziesmer, Juckel) und ein Hallenser (Berczes) ziehen ins supermoderne schwäbischen Kunstturn-Forum um, sich hier auf die Olympischen Spiele 2004 vorzubereiten, 
- zwei Chemnitzer (Kwiatkowski, Neubert), ein Hannoveraner (Pfeifer) und ein Hallenser (Faust) trainieren im rekonstruierten „Turnpalast“ in der Hauptstadt.

Der Aufstand ist niedergeschlagen und der Neue fixiert seine Standpunkte: 
Hirsch: „Wir wollen die Sportart in unserem Land erhalten, müssen uns aber trotzdem an China, Russland und den USA orientieren. Egal, welche Motive diese haben, Spitze zu sein.“ Und dann sagt er noch einen bemerkenswerten Satz und zielt da wohl Richtung deutscher Skispringer. „Wir müssen von anderen Sportarten in Deutschland lernen.“
Da gab es schon einige, die sprachen von deutschen "Luxus-Turnern", denen nichts gut genug war, denen Häuslebauen und Eigentumswohnungen wichtiger als Medaillenzielstellungen waren.
Von da holt sie nun Hirsch sofort zurück:
 „Wir haben jetzt in Berlin und in Stuttgart Superbedingungen mit europäischem Spitzenniveau, die müssen wir nutzen. Soll doch mal jemand nach den USA oder nach Kanada gehen und dort trainieren. Wer dort war, kommt gehärtet wieder: Drei Toiletten für sechzig Personen...! Das haben wir mit unseren Jugendturnern erlebt. Alle unsere Turner müssen mitdenken und die gesellschaftlichen Bedingungen hier zu Hause realer betrachten. Und im Übrigen: In der Berliner Turnhalle sind seit 1971 50 internationale Turnmedaillen gemacht worden, von hier kommen 15 internationale Medaillengewinner - und hier gibt es noch immer eine optimale leistungssportliche Infrastruktur!"
Freiheiten, wie Andreas Hirsch sie meint. Er selbst hat sechs Jahre vorbildliche Arbeit als Bundestrainer für den Nachwuchs geleistet. Künftig wird er einen aus seiner Generation neben sich haben. Ex-Weltmeister  Sylvio Kroll (Cottbus) soll im DTB eine neue Planungsgruppe leiten, die vor allem Ideen entwickeln soll.

Am 2. November nimmt Andreas Hirsch nun seine Tätigkeit bei einem Trainings-Lehrgang für die nahen WM in Debrecen (Ungarn) auf. Die deutschen Turner sind in den vergangenen 14 Jahren von Platz 2 (DDR-Olympiariege 1988 in Seoul) auf Platz 15 bei den 2001er WM in Gent abgestürzt. Der DTB-Präsident meinte zwar „Die Auseinandersetzung in den letzten Wochen war nicht förderlich“, doch das könnte alles auch anders ausgehen. 
Nicht nur die Berufungen von Hirsch wie auch von Kroll sind Hoffnungs-Zeichen, sondern auch das Umdenken der Turner selbst. 

H.-J. Zeume

... lesen Sie auch: Andreas Hirsch - Ein Leben für das Turnen
     GYMmedia-Exklusiv:   "Interview zum Amtsantritt"
Pressespiegel: "Vermittler auf dem Chefposten
(Berliner Zeitung vom 30.10.02)
    DTB-Sonder-Info  (30.10.02)

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