update: 30-Oct-2002

Berlin / Deutschland:

"Gedrängelt habe ich mich um den Posten nicht"

- Interview zum Amtsantritt des neuen Turn-Nationaltrainers Andreas Hirsch

(- GYMmedia -)

 

Hirsch 2002

Nach dem Olympia-Desaster 2000 und dem darauffolgenden schlechtesten Abschneiden deutscher Turner in der Geschichte von Weltmeisterschaften in Ghent 2001, brachten "sogenannte Konzentrationskonzepte" in diesem Sommer Unruhe unter den DTB-Athenkader 2004. 

Vertrauensverluste zwischen den Turnern, Funktionären und Trainern führten zum Rücktritt des Bundestrainers Rainer Hanschke und danach des Vize-Präsidenten Eduard Friedrich.
Knapp 10 Monate vor der Olympia-Qualifikation in Anaheim (USA) stellte der Deutsche Turnerbund am 30. November 2002 in Berlin mit Andreas HIRSCH den neuen Nationaltrainer für das Männerturnen vor.

GYMmedia- Chef Eckhard Herholz führte mit ihm das 
    
           Interview zum Amtsantritt:

Herr Hirsch, gemeinhin ist doch die Position eines Nationaltrainers die oberste Karrieresprosse, die man als Trainer einer Sportart erklimmen kann....!?

Andreas Hirsch: Also, gedrängelt habe ich mich um diesen  Posten bekannter Weise nicht. Dafür habe ich erstens mit viel zu großer Leidenschaft in meinem bisherigen Bereich als Nachwuchstrainer beim DTB gearbeitet. 

Diese Arbeit dort, die eine enorme Bedeutung gerade im Turnen hat, füllte mich beruflich absolut aus. Es war äußerst anspruchsvoll, mit Trainerkollegen und den Turnern vieler Jahrgänge auch vor Ort in der Halle zu arbeiten. Und es hat sich gelohnt, wie wir in diesem Bereich in den letzten sieben Jahren auch mit Medaillen nachgewiesen haben. Also Grund zum Wechseln bestand aus meiner Sicht absolut nicht...! 
Auch international im UEG-Bereich wurde meine Arbeit anerkannt, bei Lehrgängen, Vorträgen, da hinterlasse ich schon ein Tätigkeitsfeld nicht ganz ohne Schmerzen...


Hirsch: Gratuliert Junior Renè Piephardt in Leipzig zur  Deutschen Meisterschaft

 

Ja, aber nun war die Spitze ohne Auswahl-Trainer....!

A.H.:  Genau, aber erst einmal war ja nicht auszuschließen, dass das plötzlich frei werdende Amt durch einen etablierten Trainer des Seniorenbereiches übernommen wird. Dass das nicht geschah...., das hat mich schon einigermaßen enttäuscht, wie auch immer. Einer muss ja nun in die Spur, und letztlich habe ich es mir trotz der miesen Ausgangssituation doch reiflich überlegt: 
Ich sehe bei positivem Denken aller Beteiligten die reale Chance, dass wir die momentan verkorkste Situation mit den Turnern - und ich sage  m i t  den Turnern - wieder in den Griff bekommen, denn  d i e  müssen schließlich turnen!

Liegt also der Schwerpunkt auf Schadensbegrenzung?

A.H.:  Nein, absolut nicht. Momentan haben zwar wir viele Verletzte. Wir müssen aber mit der begrenzten Anzahl von  Spitzenturnern auch anders umgehen. Nur Kür turnen, nur an die Schwierigkeiten denken, das kann plötzlich gefährlich werden. Wir müssen und werden wieder mehr Wert auf die Grundlagen legen, denn ein leistungsbereiter, belastungsverträglicher und gesunder Körper ist das wertvollste Kapital, das uns ein Athlet zur Verfügung stellt.

Kann man sich mit Blick auf die WM 2003 - unter Zeitdruck also - diesen "Luxus" leisten?

A.H.:  Man muss - denn was nützen uns Turner, die vor wichtigen Ereignissen verletzungsbedingt ausfallen?
Natürlich ist eine erfolgreiche Olympiaqualifikation im nächsten August oberstes Nahziel. Aber wenn man vom Erreichen von 30 Stunden Trainingsumfang pro Woche spricht, dann muss man auch mit Akribie mindestens 6 - 8 Stunden spezifischer "Körperpflege" integrieren, also zur Erhaltung und Wiedererlangung der Belastungsverträglichkeit der kleinen Gelenke etwa, wie Fuß-, Hand- oder Fingergelenke und das ist absolut kein "Gülle"-Training, wie einige Athleten glauben. 
Dann stehen einem ja plötzlich nur noch 22 oder 24 Stunden zur Verfügung, und die gilt es dann qualitativ hochgradig zu nutzen. 

Also setzen Sie auch stark auf die qualitative Veränderung des Trainings?

A.H.:  Ja, und ich rechne stark mit der Riesenerfahrung und der Unterstützung solcher Trainerkollegen wie Lutz Landgraf und der anderen. Wir müssen ein verschworenes Team bilden, dass den Turnern bei der Bewältigung ihren alltäglichen Grenzbelastung zur Verfügung steht. Dicht dran, dabei meine ich, dass Turner  u n d  Trainer gemeinsam ins Schwitzen kommen. Trainer müssen sich wieder für ihre Turner "das Hemd auftrennen" - nur so gibt der Turner dann auch Leistung zurück.
Und wir müssen wieder in komplexen Bewegungsmustern denken, die vielen Einzelelementen zu Grunde liegen. Diese Grundbewegungen sind seit dem Wegfall der Pflichtanforderungen und durch die Spezialisierungen in Gefahr geraten. Trainiert man wieder mehr an konditionellen und koordinativen und technischen Schlüsselbewegungen, spart man letztlich Zeit beim konkreten Element.
Da gibt es eine Menge zu tun, was allerdings nicht bis zur nächsten WM zu schaffen ist.

Was aber steht als Erstes auf dem Plan des neuen Bundestrainers?

A.H.:  Anfang November gibt es den nächsten Lehrgang des erweiterten Athenkaders in Kienbaum. Da setze ich mich erst einmal mit den Turnern hin und werde ihnen meine Strategie des Denkens und Handelns nahe bringen. Auch mit den Trainern, denn schließlich wird ihnen da einfach einer vor die Nase gesetzt - einer der sich allerdings nicht danach gedrängelt hat - ... aber ich erwarte einfach Fairness!
Wir haben im Juniorenbereich sehr erfolgreich gearbeitet und wollen das in einem neuen, positiven Arbeitsklima fortsetzen.
Und dann müssen, nach erster Bestandsaufnahme, die WM-Turner für die 

Einzel-WM Ende November in Debrecen benannt werden. Maximal sind ja sechs Turner startberechtigt, wir werden wohl - bis auf Sprung - alle je 2 Startchancen pro Gerät ausnutzen...

... auch an den Ringen?

A.H.:  Ja - Sie sprechen das bestimmt wegen des Hannoveraners Marius Toba an. Grundsätzlich wird nach sportlicher Leistung nominiert. Und wenn Marius mit seinen 34 Jahren die Leistung zum Lehrgang nach Kienbaum bringt und wenn er mit seinem Arm gesund ist - warum nicht. Und auch der Hallenser Christian Berzces hat da seine Chance, die er mit einem 6. Weltcup-Platz eben in Glasgow beim Weltcup unterstrich; wie auch ein solcher Turner Renè Tschernitschek, der den Willen aufbringt, sich wieder Spitzenziele zu stellen, von mir jede Chance erhält in den Athenkader zurück zu kehren..

Und was ist mit dem "DTB-Konzentrationskonzept", das ja förmlich zu einem Aufstand der Turner führte?

A.H.:  Ich habe mir vom DTB erbeten, dass ich mit dieser Frage und wie das alles gelaufen ist, nicht mehr konfrontiert werde. Das Bündeln von Kräften, auch gemäß der Möglichkeiten, ist aber auch aus meiner Sicht definitiv angesagt.

In einem 14-tägigen Wechsel werden wir erst einmal gewisse Konzentrationen in den Leistungszentren Berlin und Stuttgart mit 2 Wochen Heimtraining vornehmen. Mit den Chemnitzer Trainer Henry Vogel werden wir kommende Woche noch einmal nach Berlin fahren, um die Voraussetzungen für den Berlinaufenthalt des Dreigestirns Kwiatkowski-  Neubert - Coach Vogel mit dem Berliner OSP-Chef unter die Lupe zu nehmen. Es sind zweifelsfrei neben Stuttgart die Bestbedingungen und wir werden nach dieser vertrauensbildenden Maßnahme weiter sehen...
Ich bin dafür, dass wir für jeden Athleten eine spezifische Lösung unter Berücksichtigung seiner individuellen Sicht finden werden.....

Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir wieder positive Denkmuster schaffen, dann werden wir auch wieder erfolgreich handeln. Daran werden wir gemeinsam arbeiten.

Vielen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für einen guten Amtsantritt! 

(Eckhard Herholz für gymmedia)  

  Bericht Pressekonferenz (Berlin) zum Amtsantritt
    ... lesen Sie auch: Andreas Hirsch - Ein Leben für das Turnen
        Pressespiegel: "Vermittler auf dem Chefposten (Berliner Zeitung vom 30.10.02)

. Hirsch Hirschi

 

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