07. April 2017  
Chemnitz, GER  
Gerätturnen

Spitzen-Turnklub TuS Chemnitz-Altendorf kündigt Rücktritt aus der 1. Turn-Bundesliga an

Der zweimalige Deutsche Mannschaftsmeister (2008/2011) und 9-fache Medaillengewinner des letzten Jahrzehnts, TuS Chemnitz-Altendorf, hat auf Beschluss seiner Vereinsleitung den Rückzug aus dem Bundesliga-Wettkampfbetrieb der Deutschen Turnliga (DTL) mit Wirkung vom 1. Januar 2018 angekündigt.
Hauptgrund dafür ist die Entscheidung der DTL, das seit 14 Jahren bei den Männern angewandte sog. "Score-Punkt-Bewertungssystem" nun auch für die Mannschaftsmeisterschaft der Frauen einzuführen. Beschlossen wurde dies auf einer DTL-Mitgliederversammlung am vergangenen Sonntag (2. April) in Frankfurt/Main ...

♦♦ GYMmedia-Standpunkte zum Scoresystem:
Unabhängig von der Tatsache einer Ausweitung auf den Frauenbereich (im Sinne der "Vereinheitlichung") steht das zusätzliche Score-Punktsystem schon länger in der Kritik:
Hauptkritikpunkte:
1. Es handelt sich dabei nämlich zu 100 % nicht um eine Bewertung individueller sportlicher Leistung, sondern um eine willkürliche Punkteinterpretation des Unterschiedes zweier Duellanten! Außerdem ist es  n u r  für das Aufeinandertreffen zweier Mannschaften anwendbar, hat darüber hinaus keinerlei weitere Bedeutung und ist für auswertende Leistungsinterpretationen journalistisch weitestgehend unbrauchbar!
2. Es verzerrt die nur noch hintergründige Punktvergabe der internationalen Wertungsbestimmungen gemäß Code de Pointage!
Außerdem führt es in Praxi zu kuriosen Konstellationen, z. B. derart:
Treten zwei Stars mit internationalen Spitzenleistungen und nahezu gleichwertig auf höchstem technischen Niveau an, unterscheiden sich aber nur sehr knapp in ihren Punkten nach Code de Pointage - bringt der um einen Hauch bessere Duellant evtl. nur 0 oder 1 Scorepoint ins Mannschaftsresultat ein.
Treten dagegen zwei Athleten niedrigerer Niveaustufe gegeneinander an, die sich aber im Punktwert mit größerer Differenz unterscheiden, sind 2 bis 5 Punkte fürs Teamresultat möglich. Dies führt somit nach allen Additionen zu einem völligen Zerrbild im Schlussresultat. (So hatte z. B. der Deutsche Meister KTV Straubenhardt im letzten Mannschaftsfinale 2016 eine geringere Punktzahl als Bronzemedaillengewinner MTV Stuttgart. * ... siehe auch ►► GYMmedia-News vom 03. 12. 2016)

Historisches: Wie es dazu kam ...
Man konnte ihn schon ob seiner "schlüssigen Idee" beneiden, diesen Ex-Turner und heutigen Geschäftsführer des MTV Stuttgart, Dr. Karsten Ewald, der als der eigentliche Erfinder des Scoresystems gilt: Damals war es selbst für gutwillige Anhänger dieser ästhetischen Turndisziplin schier unmöglich geworden, anhand der vergebenen Punktedichte im begrenzenden Zehner-Wertungssystem nachzuvollziehen, warum wer Gold und nicht Silber oder wer welche Platzierung in einem Turnfinale hatte: Diesen Tausenstel-Differenzen musste man damals einfach etwas Wirkungsvolles entgegen setzen! Da erfand Dr. Ewald diese Duelle für die Bundesliga und markierte deren Unterschiede in einem Fünfer-Punktesystem. Der Autor dieser Zeilen war selbst Moderator eines Testwettkampfes in Cottbus und ließ sich von der Begeisterungsfähigkeit des Erfinders und auch der hinlänglichen "Wirkung des Systems" mit begeistern ... wie gesagt, damals, in der verflossenen 10'er-Wertungswelt!   * ... siehe GYMmedia-News 2003

Doch das nachfolgende "Überdecken" der weiterhin durch die Kampfgerichte ermittelten internationalen Punkte durch die zusätzlichen sog. "Scorepoints" ist spätestens seit Abschluss des Olympiazyklusses 2008 in Peking überflüssig geworden, seit sich das neue Wertungssystem bewährt hat, weil es besser differenziert und weil es für das interessierte Turnpublikum schlüssiger erklärbar geworden ist! Seither gab es des öfteren  Pro- und Kontra-Diskussionen:  * .. siehe GYMmedia-News 2012

Grundsätzlich: Wertungspopulismus schadet dem Ruf der Sportart!
10 Punkte + D-Wert (Schwierigkeit) ergeben einen Ausgangswert, d. h. geht ein Turner mit einem Ausgangswert von 17,600 ans Gerät, dann will er eine Schwierigkeit von 7.6 realisieren. Von den 10.0-Punkten (Substanz) werden dann die Abweichungen vom inhaltlichen Ziel, bzw. die technischen Unzulänglichkeiten als E-Note (Execution) abgezogen.
Werden diese korrekt, zeitnah und optisch wirkungsvoll (!) angezeigt, sind diese Werte für wissende Fach-Moderatoren für die Ränge gut  erklärbar und vor allem: Sie sind am internationalen Niveau ausgerichtet!
Die Duelle zweier Athleten besonders zu betonen, ist und bleibt natürlich hervorragend! Wozu, zum Teufel, braucht es aber dann noch eine zusätzliche Punktvergabe, wenn man doch auch in der Differenz der konventionellen Punkte schon den Sieger erkannt und nach klar definierten Wertungsregeln (!) gekennzeichnet hat?
... oder will man jenen Turner mit vielleicht nur 1 Sturz als den großen Helden feiern, weil er seinen Gegner mit 2 Stürzen "übertrumpft" hat ...?
Spätestens hier wird Wertungspopulismus überdeutlich!

Von wegen, Scorepoints sind wie "Tore im Fußball" - Quatsch!
Das ist so, als würde man im Fußball statt der Tore das Eckenverhältnis entscheiden lassen!
Deutschland will 2019 die vorolympische Qualifikations-WM durchführen. Den Medienvertretern gegenüber muss man mit einer gültigen "Wertungssprache" gegenübertreten!
Es gibt keine Sportart, in der ein nationales Ligasystem das internationale Reglement und dessen Grundprinzipien (nämlich die sportlichen Leistungen) missachtet.
Zu Recht äußerten Journalisten zuletzt ihr Unverständnis bei der Interpretation der letzten Mannschaftsmeisterschaft. * ... siehe ►► GYMmedia-News, 3. Dez 2016)
Und dass DTL-Vertreter behaupten, dass seit der Einführung des Scoresystems das Kunstturnen im Lande einen Aufschwung erlebt hat, ist zu erheblichem Teile anmaßend, mindestens ungerecht: Es waren und sind in erster Linie die gewachsenen Leistungen der Athleten und ihrer Trainer, die dazu führten - natürlich auch die engagierten und überdurchschnittlichen Anstrengungen der Eventorganisatoren vor Ort und die "eingekauften" Ligalegionäre - aber medial gesehen ist die überregionale Außenwirkung der ersten Liga des zweitgrößten deutschen Sportverbandes nach wie vor untermaßig, ja fast nicht vorhanden!

Und was nun die Situation der deutschen Frauenligen betrifft:
 - Man muss wohl nun das Oberhaus der 1. Liga in zwei Vierer-Staffeln (A und B) einteilen, um Mannschaftsduelle zu ermöglichen, also Team 1 vs. Team 2 und 3 vs. 4, bzw. in der B-Staffel Team 5 vs. Team 6 und 7 vs. 8. Das findet wohl dann gleichzeitig in einer Wettkampfhalle statt...? Wer, um Himmelswillen, soll da auf den Rängen den Überblick behalten ...?
- Ein weiteres Männer-Argument, nämlich die zusätzliche strategische Komponente des Geschicks der Trainer, wen setzte ich im aktuellen Wettkampfgeschehen gegen den soeben vom Gegner gewählten Kontrahenten ein, geht wohl bei den Frauen eher nach hinten los: Die meisten der Vereine sehen im Bundesligageschehen bestenfalls eine willkommene Variante des Erfahrungsgewinns: Oft sammeln hier bereits 12- oder 13-jährige Mädchen ihre ersten Wettkampferfahrungen, mit dem Ziel der Vorbereitung auf höhere nationale und internationale Aufgaben. Deren Wettkampfeinsatz muss sicher eher mit individuellem Fingerspitzengefühl der Trainer erfolgen, statt hier überraschenden adhoc-Entscheidungen im Scorepoint-Fight zu folgen.

- Das "scheindemokratische" Abstimmungsverhältnis der DTL-Mitgliederversammlung von 19 : 11 pro Scorepointsystem auch bei den Frauen, kam zustande, weil überraschend auch die Vereine der 2. und 3. Liga ebenso stimmberechtigt waren. Ursprünglich hatte wohl der Ideengeber dieses Scoresystems, Stuttgarts MTV-Geschäftsführer Dr. Karsten Ewald "sein" Scoresystem nur für die 1. Bundesliga der Frauen vorgesehen.
Und grundsätzlich: Muss es denn bei einem nationalen Ligasystem nicht in erster Linie darauf ankommen, als sinnhafte Vorbereitungsstufe auf internationale Aufgaben zu wirken, d. h. sich dem Ziel der Formierung einer leistungsstarken Nationalmannschaft zu verschreiben...?
Müssen dabei die Haltungen, Argumente und Stimmen der beiden Nationaltrainer inklusive der Nachwuchstrainer nicht unbedingt mit einbezogen werden? Die waren wohl aber gar nicht zu dieser Wahl eingeladen?!
Ist da etwa ein grundsätzlicher Interessenkonflikt zu vermuten? Das wäre ja wirklich furchtbar!
* Eckhard Herholz
GYMmedia INTERNATIONAL

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Erste Reaktionen ... :
Einer der führenden und erfolgreichsten Frauenturn-Klubs, der TuS Chemnitz-Altendorf, kündigt für den 31. 12. 2017 seinen Austritt aus dem DTL-Bundesligabetrieb an.

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Ulla Koch (DTB)