Ralf Büchner (SC Potsdam), der ein Jahr später erster Reck-Weltmeister des dann wiedervereinten Deutschlands wurde |
"KUNSTTURNMASTERS München 1990"
Drei Tage vor dem Vollzug der Deutschen Einheit am 03. Oktober 1990, trat zum ersten Mal in der Geschichte ein wiedervereintes deutsches Sportteam an: Das waren vier Turner Ost und drei Turner West in einer gemeinsamen Länderkampfriege in der Münchener Olympiahalle, beim sogenannten "KUNSTTURNMASTERS 1990", einem Dreiländerkampf gegen Olympiasieger und Weltmeister UdSSR und die USA ... ( ► Die Vor-Turner (OTZ; 28-09-2020))
♦ ... ein historischer Wettkampf!
Unter der Schirmherrschaft des damaligen BRD-Innenministers Wolfgang Schäuble standen zum ersten Mal nach zuletzt 26 Jahren - als 1964 in Tokio unter den Klängen von Beethovens "Freude schöner Götterfunken" deutsche Turner in einer Riege in die olympische Arena zogen - nun deutsche Athleten unter denselben Klängern wieder in einer gemeinsamen Mannschaft. Zumindest optisch "In Eintracht" standen da erstmals "neben"einander die Trainer Dieter Hofmann (DDR) und Franz Heinlein (BRD), sowie die Turner-Ost Oliver Walther, der letzte DDR-"Sportler des Jahres" Andreas Wecker, Ralf Büchner und Jens Milbradt sowie auf "noch-bundesdeutscher Seite" Mike Beckmann, der leider schon Anfang 2014 viel zu früh verstorbene bayrische Ex-Nationalturner Rainer Lindner und Ralph-Ingo Kern ...
Die erste wiedervereinte Sportmannschaft der Deutschen Einheit
30. September 1990: Olympiahalle München
'Kunstturnmasters 1990: Dreiländerkampf gegen UdSSR und USA
Der damalige Innenminister der BRD, Wolfgang Schäuble, eröffnete als Schirmherr den Wettkampf |
♦♦♦ Die Deutsche Einheit und das Turnen
Waren die deutschen Turner sonst in der Vergangenheit ein eher konservativer und schwer zu bewegender Haufen - im Zusammenhang mit dem Vollzug der Deutschen Einheit waren sie fixer als alle anderen:
Am 8. / 9. September 1990 schon vollzogen sie auf dem DTB-Verbandstag in Hannover als erster deutscher Sportverband die Aufnahme der in aller Eile auf Grundlage der neuen Bundesländerordnung des heißen und bewegten Sommers 1990 gebildeten neuen 5 Landesturnverbände.
Fixer noch als Kohl und de Maiziere am 3. Oktober, vereinigten sich die Spitzenturner sogar schon 3 Tage v o r der Deutschen Einheit zu einer ersten, gesamtdeutschen Mannschaft wieder und zogen, so wie zuletzt in Tokio 1964, unter den Klängen der Beethoven'schen Ode "Freude schöner Götterfunke", nun in die Müncher Olympiahalle ein, und doch war diesmal alles ganz anders:
Symbol- und einträchtig standen sie nun da nun in einer Linie, wie selbstverständlich und waren doch eben noch so weit voneinander entfernt gewesen, wie Sri Lanka vom Eiffelturm ... !
Sportlern, denen systembedingt - zumindest ostseitig - der Umgang mit dem einstigen Klassengegner von Klein an aberzogen war, private Kontakte untersagt blieben, bei Strafe von Konsequenzen, war nun normaler, menschlicher Umgang möglich ...
Längst noch nicht hatten damals alle jungen Männer die historische Tragweite dieses Wettkampfes begriffen.
Ralf BÜCHNER (damals noch ASK "Vorwärts" Potsdam), der im Folgejahr 1991 dann erster gesamtdeutscher Turn-Weltmeister (Reck, Indianapolis) werden sollte:
": .. Mann, wir waren gerade mal knapp über Zwanzig, so richtig haben wir das Historische erst später geschnallt! Was aber den Umgang unter uns Sportlern anging, da gab's von Anfang an keine Probleme!"
Ralph-Ingo KERN, mehrfacher Deutscher Meister, heute Dr. med., niedergelassener Orthopäde und Mannschaftsarzt bei den Fußballprofis der TSG 1899 Hoffenheim (2016) |
Dr. Ralph-Ingo KERN (SV Leingarten), einer der drei "Wessi"-Turner in der Münchner Riege:
"Im Verhältnis zu den professionell trainierten DDR-Turnern waren wir ja höchstenfalls engagierte 'Hobby-Turner', da war schon klar, was mit uns passiert. Die DDR war in Seoul schließlich Zweiter hinter den Sowjets - wir waren Zwölfte (!) - das sagt schon alles. Menschlich aber hatte ich keine Probleme, mit dem Zusammenwachsen Ost-West. Das waren Turner, Jungs wie wir, und außerdem kannten wir uns schon länger, haben bei Turnieren auch schon mal länger zusammengehockt, auch wenn denen das nicht gestattet war und wir die Jungs nicht gefährden wollten."
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♦♦♦ Rückblenden aus sportlicher Sicht:
* Andreas GÖTZE - heutiger LEON*-Chefredakteur - schrieb damals in einer Ausgabe der DDR/DTV-Zeitschrift "Turnen":
► "... denn was ist ein doppelter Tsukahara gegen die deutsche Vereinigung?!"
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* Jürgen UHR, damaliger Chef des BRD-Turnmagazins (Olympisches Turnen Aktuell (OTA):
► Junioren-Europameister überzeugte
Sergei Charkow (URS), 1988 mit 18 Jahren jüngster Boden-Olympiasieger der Geschichte, hier, 1990 in München mit 20 Jahren hinter Alexander Koliwanow damals Zweitbester in der UdSSR-Riege, bevor er in den neunziger Jahren nach Deutschland wechselte, noch mit über 40 Jahren einer der bemerkenswerten Leistungsträger in deutschen Bundesligen war und später sogar 'mal Deutscher Senioren-Meister wurde! ... |
Auf Trainerebene, da sah's aber zunächst mit Einheit und Einigkeit zur Wendezeit um Einiges komplizierter aus:
Bundestrainer des DTB 1990 war auf der Westseite der Schwabe Franz HEINLEIN:
"Ja, das war für uns alle schon ein außergewöhnlicher Termin! Da haben wir ja alle hingewollt. Aber als ich da so an dieser Stelle stand, war mir nicht mehr so klar, ob ich persönlich hier hingehörte...!"
Der als sehr versöhnlich, fair und ausgleichend bekannte und beliebte Heinlein sah sich nun urplötzlich im eigenen Stall mit der "sportlichen Übermacht" des DDR-Spitzenturnens konfrontiert. Das hatte als Mannschaft mit den Sowjets schließlich bei Olympia in Seoul 1988 um Gold geturnt, Team-Silber gewonnen und zur WM 1989 in Stuttgart in gleicher Folge vor China und Japan erneut den Vize-Titel geholt.
Die DDR brachte sich im Männerbereich als eine Welt-Spitzennation in die Deutsche Einheit ein!
Dieter Hofmann (Mitte), Sven Tippelt, Sylvio Kroll: Olympiasilber in Seoul |
Klar, da sollte schon ein Mann aus diesem sportlichen Erfolgssystem die Chef-Trainerposition übernehmen. Zur Disposition standen der Ex-DDR-Auswahlcoach Dieter Hofmann, der Berliner Wecker-Trainer Lutz Landgraf, der Cottbuser Cheftrainer Bernd Heide sowie die beiden Hallenser Uwe Ronneburg und Klaus Milbradt.
An ersterem schieden sich die Geister: Einerseits waren den DTB-Vertretern die strategischen und fachlichen Qualitäten eines weltweit anerkannten Trainers Dieter Hofmann wohl bekannt, zu dem auch seine DDR-Athleten ein gutes, sauberes Verhältnis hatten.
Andererseits fürchteten sie aber die Angriffe der bundesdeutschen Presse gegen diesen Mann, dessen öffentlich artikulierten politischen Bekenntnisse zu seinem nun im Untergang begriffenen Staat im Fokus der Medien standen; und auch die bundesdeutschen Athleten sehnten sich absolut nicht nach einer "Führungsfigur", wie sie damals Dieter Hofmann aus ihrer Sicht verkörperte....!
Von den drei anderen Kandidaten lehnten die ersten drei den Posten ab. Einzig Klaus Milbradt sagte zu. Da er zugleich zu Hause noch Cheftrainer des sich im Umbau befindenden SC Chemie zum SV Halle war, hatte er sich jedoch mit der Gesamtbelastung wohl übernommen und scheiterte im Frühjahr 1992 an dieser Aufgabe und wurde ersetzt durch Franz Heinlein, der das deutsche Männerturnen dann über Barcelona '92 bis 1996 nach Atlanta führte.
Natürlich war man scharf darauf, möglichst viel vom Top-Leistungsstand des DDR-Männerturnens in die neue Zeit zu retten. Was hie und da im Einzelnen und mit individuellen Erfolgen der übernommenen DDR-Turner und ihrer Trainer gelang:
Gesamtstrukturell aber hatte es der Deutsche Turner-Bund (DTB) sträflichst unterlassen, das DDR-Fördersystem,
insbesondere das Netz der Trainingszentren (TZ) und seiner Personalstruktur, das besonders im Gerätturnen das bestentwickeltste (!) der Welt war, auf seine Eignung hin zu überprüfen, im "neuen", alten (DTB-) System der Bundesrepublik installiert werden zu können.
<< Erfolgreiche Spartakiade-Kinder TURNEN im damaligen Bezirk Halle (1977), die allesamt aus ihren Trainingszentren den Förderweg in die Kinder- und Jugendsportschule (KJS) der Saalestadt fanden. (Foto: Hp Beyer).
Konstruktive Konzepte, konkrete Vorschläge, die im letzten Halbjahr der DDR und noch danach in den Reihen des DTV der DDR und sogar in Konzernzentralen Bundesdeutschlands (!) entwickelt wurden, ignorierte man bzw. verbot sie regelrecht! Nicht ohne Grund reagierte ein nicht geringer Teil engagierter DTV-Mitglieder enttäuscht und sprach anlässlich des Vereinigungs-Turntags in Hannover nicht von gleichberechtigter Vereinigung, sondern von Anschluss und Übernahme.
All jene, die dieses deutsche Turnen im Osten Deutschlands mit Leben erfüllt haben - egal ob im Breiten-, im Nachwuchs oder im Spitzensport - sollten und dürfen noch nachträglich stolz auf das damals Geleistete sein!
Eine Vielzahl von Trainern mit hoher theoretischer, methodischer, fachlicher Ausbildung und Erfahrung entließ man jedoch aus dem System ohne Alternativvorschläge zu prüfen. In anderen Ländern rieb man sich ob des zufließenden Knowhows dagegen freudig die Hände:
Im ersten Einheits-Jahrzehnt dominierte neben Umbau und Angleich an bestehende alt-bundesdeutsche und DTB-Strukturen zunächst der kontinuierliche, z. T. rapide Rückgang des Leistungsniveaus internationalen Anspruches.
Trotzdem nie aufgehört hat man allerdings in den wenigen verbliebenen Zentren, wie Cottbus, Chemnitz, Berlin, Halle, die gewohnte Nachwuchsarbeit irgendwie engagiert weiter zu führen.
Der dann, zumindest im deutschen Männerturnen, wieder erfolgende Aufschwung und Anschluss an internationales Spitzenniveau im neuen Jahrtausend, ist auch Ausdruck der Unermüdlichkeit langfristig orientierter Arbeit der Praxisleute vor Ort und in letzten Jahren, aber auch gestärkter Position des Spitzensports in den Führungsstrukturen des DTB.
Allerdings: Was man einst in den Neunzigern versäumte, will man nun seit geraumer Zeit mit einem System von Turntalentschulen wieder mühsam errichten, reicht aber oft mit nur halbherziger Konsequenz und mangelhafter (personeller) Ausstattung der Talentsichtung und -förderung bei weitem nicht an frühere TZ-Modelle heran.
Negativ-Beispiel: Der Zustand des Frauenturnens in der einstigen Welt-Turnhhochburg Berlin! Auch ohne Dynamo/Stasi oder politischen Brimboriums hätte man dort mit substanzerhaltene Maßnahmen überlebensfähige Formen von Talenteförderungen etablieren und in einheitsdeutsche Zeiten überführen können - dazu hätte man aber den Willen und eigene Konzepte haben müssen - beides war zu Wendezeiten im DTB und im deutschen Sport nicht vorhanden!
Langfristigkeit, Beharrlichkeit u n d Qualität der Bildungsvermittlung sind aber nun mal die Mütter des Erfolges, nicht nur in der so komplexen, anspruchsvollen Disziplin des Gerätturnens, egal in welchem politischen System!
* Lesen Sie dazu auch: ► Kommentar des damaligen DTB-Präsidenten zu 20 Jahre Deutschen Einheit (2010)
Eckhard Herholz: ehemaliger Kunstturntrainer in der DDR, dann DFF-TV-Reporter - hier, mit Eberhard Gienger am Mikrofon beim Kunstturnmasters, seinem ersten Arbeitstag als 'neuer' ZDF-Reporter im Westen ... |
... und aus persönlicher Sicht des Autors dieses Beitrages:
Dieser 30. September 1990 war auch mein erster Arbeitstag als TV-Reporter beim ZDF. Tags zuvor noch und 40 Lebensjahre lang zuvor, war ich Teil einer anderen Wertewelt, eines anderen Systems von Normen, Denk- und Verhaltensweisen, und saß 10 Monate davor noch am Live-Mikrofon des DDR-Fernsehens bei der Stuttgarter Turn-WM.
Als Absolvent einer dereinst weltweit führenden und anerkannten Sporthochschule der Welt, der Deutschen Hochschule für Körperkultur Leipzig (DHfK), deren rigorose Abwicklung statt strukturellem Umbaus ich bis heute nicht nachvollziehen kann, gehörte ich später, als Journalist des "Deutschen Fernsehfunks" (DFF), zum Bestand des sogenannten "ersten Mediums der Partei", wie das im DDR-Jargon hieß. Und so hatte man schließlich auch die Schere im Kopf, wusste genau, was verbal oder bildlich ging oder nicht ging, bzw. "nicht zu gehen hatte...!!
... doch nun plötzlich, im Überschwange "grenzenloser Freiheit" ,sprang doch der eben "befreite" Ost-Reporter in einer ZDF-Übertragungspause mit Fechterflanke über die Barriere in der Münchener Olympiahalle und holte einfach so den Schirmherrn Schäuble ans ZDF-Interview-Mikrofon ...!
Denkste... das wurde dann auch gleich mein erster großer Ansch..... in der Redaktion: "Also, Herr Herholz, so geht das bei uns nicht! Sie können nicht einfach ohne Rücksprache mit der Leitung irgend jemanden interviewen...." (???) Mein erster Kontakt mit der eben erworbenen "neuen Freiheit", war das...!
Aber, im Ernst: Nichts ist uns inzwischen wertvoller geworden, wie diese deutsche Einheit, nichts natürlicher als sie, aber sie bedarf auch nach über drei Jahrzehnten noch immer der ständigen Pflege. Dazu gehören Erinnerungen und Geschichten, die großen, wie die kleinen und Menschen, die sie nicht vergessen und wiedererzählen.
Aber dazu gehört auch das Selbstbewusstsein a l l e r Deutschen, die erinnernswerte Lebensleistungen vollbracht haben, in West wie in Ost!!
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* AUTOR: Eckhard Herholz
* Damals: Ex-Turntrainer und TV-Reporter Ost (DFF),
* Später: TV-Reporter, freier Journalist (ZDF, DSF, ARD, Eurosport)
* Heute: Chefredakteur GYMmedia INTERNATIONAL (- seit 1994)
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* Die stets ausgewogen berichtende und sportfreundliche Osthüriger Zeitung (OTZ) widmet sich diesem historischen Ereignis:
► Die Vor-Turner (OTZ; 28-Sep-2020)
► Wie Journalist Herholz den historischen Dreiländerkampf am 30. September 1990 erlebt
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♦♦ Die sportlichen Gegner am 30. 09. 1990 in München:
Das UdSSR-Weltmeisterteam von Stuttgart 1989, in München mit: |
Die USA-Mannschaft 1990 (- zur WM 1989 in Stutttgart Rang 8): mit |